„Big Data und KI sind kein Selbstzweck“

Einmal kräftig investieren, eine Batterieproduktion aufbauen – und dann satte Gewinne einfahren. Dass es so nicht funktioniert, haben zahlreiche Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit gezeigt. Ein wesentlicher Knackpunkt: die Qualitätssicherung. „Die kritischen Merkmale in der Batterieproduktion sind bekannt – und trotzdem wird häufig unterschätzt, wie anspruchsvoll die Einhaltung der geforderten Toleranzen ist“, sagt Dr. Philipp Jatzkowski, „Senior Manager Quality Assurance Consulting“ bei „Testo Industrial Services“. Worauf es jetzt und in Zukunft ankommt, erzählt der Prüfprozess-Experte im Exklusiv-Interview mit den Battery-News.

Battery-News: Worin bestehen die größten Hürden bei Qualitätsprozessen in der Batteriezellfertigung?
Dr. Philipp Jatzkowski: Die Herausforderungen in der Batteriezellproduktion resultieren aus der Komplexität des Produkts, des Produktionssystems und der engen Produkt- und Prozesstoleranzen. Studien zeigen eine durchschnittliche Ausschussquote von 30 Prozent im Produktionsanlauf. Es gelingt aktuell nur sehr langsam, nämlich über einen Zeitraum von mehreren Jahren, diese Quote zu reduzieren. Schon kleinste Abweichungen können sich entlang der Wertschöpfungskette addieren und zu hohen Ausschussraten führen. Vielen europäischen Herstellern fehlen noch detaillierte Erfahrungswerte im Produktionsanlauf und in der Skalierung solcher Produktionssysteme.

„Belastbare Daten zur Fähigkeit des Fertigungsprozesses sind unerlässlich, um stabile und reproduzierbare Produktionsabläufe zu gewährleisten.“

Battery-News: An welchen Stellen ist die Qualitätssicherung bei der Zellfertigung besonders erfolgskritisch?
Jatzkowski: Nahezu alle Produktionsschritte in der Zellfertigung stellen hohe Anforderungen an die Produktionssysteme und die Messtechnik. Es ist deshalb nicht ein einzelner Prozess, der besonders kritisch ist. Vielmehr braucht es ein durchgängiges Qualitätssicherungskonzept in der gesamten Wertschöpfungskette. Dazu gehört der systematische Aufbau von Regelkreisen mit gezieltem Einsatz von Inline-Messtechnik, fertigungsnahen Prüfungen und Laboranalysen. Voraussetzung dafür sind kalibrierte Messsysteme mit nachgewiesener Messprozesseignung – oft auch als „Messsystemanalyse“, MSA, bezeichnet. Außerdem sind belastbare Daten zur Fähigkeit des Fertigungsprozesses unerlässlich, um stabile und reproduzierbare Produktionsabläufe zu gewährleisten. Mit Hilfe statistischer Prozesslenkung gelingt es, Abweichungen frühzeitig zu erkennen und Ausschuss nachhaltig zu vermeiden.

Dr. Philipp Jatzkowski erklärt ein Messsystemanalyse-Verfahren. (Foto: Testo Industrial Services)

Battery-News: Was sind typische Fehler, die bei der systematischen Mess- und Prüfmittelplanung in der Batterieproduktion gemacht werden?
Jatzkowski: Ein häufiger Fehler liegt in der isolierten Betrachtung einzelner Sensoren und Messsysteme, anstatt sie als integralen Bestandteil eines mehrstufigen Konzepts zur Qualitätssicherung mit definierten Regelkreisen zu planen. Die Prüfplanung ist komplex und erfordert es, dass alle relevanten Einflussgrößen berücksichtigt werden. Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch von „5M“: Messsystem, Mensch, Mitwelt, Methode und Messobjekt – ergänzt durch ein sechstes „M“, die Messfrequenz, die für die statistische Prozesslenkung maßgeblich ist. Die Prüfplanung muss von metrologisch geschulten Fachkräften vorgenommen werden und mit dem Nachweis der Messprozesseignung abschließen.

„Entscheidend sind eine robuste Ausgangslage und die wachsende Erfahrung mit Produkt und Produktionssystem.“

Battery-News: Die Branche entwickelt sich rasant. Wie gelingt es, bei ständig neuen Technologien immer wieder verlässliche Prüfprozesse zu etablieren?
Jatzkowski: Dafür müssen schon im Entwicklungsprozess diejenigen Merkmale identifiziert werden, die die Qualität des Endprodukts bestimmen, und für genau die müssen dann stabile Prüf- und Fertigungsprozesse aufgebaut werden. Auf dieser Basis lässt sich die kontinuierliche Verbesserung vorantreiben – etwa durch optimiertes Zelldesign, leistungsfähigere Produktionssysteme oder den Einsatz neuer Messtechnik wie hochauflösender „Machine Vision“-Systeme mit Algorithmen des maschinellen Lernens. Veränderungen erfolgen immer schrittweise. Entscheidend sind eine robuste Ausgangslage und die wachsende Erfahrung mit Produkt und Produktionssystem.

„Wir müssen noch besser verstehen, wann eine Abweichung in der Beschichtung von Elektroden sicherheits- oder leistungsrelevant ist.“

Battery-News: In der Batteriezellfertigung ist die Rückverfolgbarkeit von zentraler Bedeutung. Wie lässt sich sicherstellen, dass Prüf- und Qualitätsdaten entlang der gesamten Prozesskette konsistent erfasst und nutzbar sind?
Jatzkowski: Die Rückverfolgbarkeit sehe ich weniger als Herausforderung, denn Systeme zur Produktkennzeichnung – beispielsweise QR-Codes – und automatisierte Datenspeicherung ermöglichen schon heute digitale Zellakten. Spannender ist die Frage, wie wir diese Daten nutzen, um unser Verständnis von Produkt und Produktion zu vertiefen und die Qualität zu steuern. Künstliche Intelligenz wird dabei eine zentrale Rolle spielen. Wenn wir hochwertige Daten mit niedriger Unsicherheit und vollständigen Meta-Informationen generieren, entsteht ein wertvoller Datenschatz. Entscheidend ist, welche Fragen wir an diese Daten stellen. „Big Data“ und KI sind kein Selbstzweck! Ziel muss es sein, funktionale Spezifikationsgrenzen über mehrere Prozessschritte hinweg zu erkennen und das Produktionssystem robust zu gestalten. Ein Beispiel dafür ist die Erkennung von Defekten an Elektroden: Wir müssen noch besser verstehen, wann eine Abweichung in der Beschichtung sicherheits- oder leistungsrelevant ist – und wie solche Abweichungen entlang der Prozesskette entstehen, vom Slurry-Mixing bis hin zum Schneiden der Elektroden.

„Mit zunehmendem Output entsteht die Datenbasis für die kontinuierliche Steigerung der Produkt- und Prozessqualität.“

Battery-News: Viele Produktionslinien befinden sich im Aufbau oder im Hochlauf. Wie lässt sich Qualitätssicherung wirksam umsetzen, wenn noch keine stabile Serienproduktion läuft?
Jatzkowski: Jeder Ramp-up-Prozess ist iterativ und beinhaltet eine steile Lernkurve – auch, wenn schon vergleichbare Produktionslinien in Betrieb sind. Es geht um den Aufbau, die Inbetriebnahme und die Verkettung technisch anspruchsvoller Produktionssysteme: Dieser Prozess setzt eine sehr enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit des Zellherstellers und des Lieferanten des Produktionssystems voraus. Wir durchlaufen im Ramp-up-Prozess definierte Phasen mit einer kontinuierlichen Steigerung von Stabilität und Output des Produktionssystems. Umso wichtiger ist, dass von Beginn an die Eignung der Mess- und Prüfprozesse und die Fähigkeit der Produktionssysteme sichergestellt ist – selbst, wenn es sich erst mal nur um die vorläufige, sogenannte Maschinenleistung auf der Grundlage geringer Stückzahlen handelt. Mit zunehmendem Output entsteht dann die Datenbasis für die kontinuierliche Steigerung der Produkt- und Prozessqualität.

Messsystemanalyse (Foto: Testo Industrial Services)

Battery-News: Welche physikalischen oder prozessbezogenen Messgrößen werden oft unterschätzt, sind aber entscheidend für Produktqualität oder Sicherheit?
Jatzkowski: Die kritischen Merkmale in der Batterieproduktion sind bekannt. Trotzdem wird häufig unterschätzt, wie anspruchsvoll die Einhaltung der geforderten Toleranzen ist. Bei der Beschichtung von Elektroden sind das oft wenige Mikrometer. Für das Messsystem bedeutet das eine stabil einzuhaltende Messunsicherheit von unter einem Mikrometer. Zum Vergleich: Bakterien sind ein bis drei Mikrometer klein! Im Gegensatz dazu sind die meisten elektrischen Messungen, zum Beispiel die Spannung an der Batteriezelle oder der Isolationswiderstand, keine besonders große Herausforderung. Meine Erfahrung ist, dass wir hier ein gutes Verhältnis von Messunsicherheit und Toleranz haben.

„Oft liegen die Herausforderungen schon beim Verständnis grundlegender Begriffe.“

Battery-News: Wie eng sollten Qualitätssicherung, Produktions-IT und Datenanalyse heute zusammenarbeiten? Wird Qualitätssicherung zunehmend zu einem digitalen Thema?
Jatzkowski: Die Zusammenarbeit auf Experten-Ebene ist essenziell. Das fängt schon bei der Kommunikation zwischen Produktdesign, Produktionsprozessplanung und Qualitätssicherung an. Eines der größten Probleme ist, dass hier zu wenig Kommunikation stattfindet. Eine entscheidende Voraussetzung für ein stabiles Produktionssystem ist, dass alle Parteien dieselbe Sprache sprechen und dasselbe Ziel verfolgen: ein Produktionsprozess, in dem die Einhaltung der Funktionstoleranzen mit hinreichend geringer Unsicherheit über stabile Regelkreise sichergestellt wird. Oft liegen die Herausforderungen aber schon beim Verständnis grundlegender Begriffe wie „Funktionstoleranz“, „Maschinen- und Prozessstreuung“, „Messunsicherheit“, „Akzeptanzgrenzen“ oder „Eingriffsgrenzen und Fehlerschlupf“, die alle Teil des Produktionslenkungsplans sein sollten. Erweitert wird dieser Kreis dann durch Experten aus der Produktions-IT und der Datenanalyse, die die Grundlage für eine verlässliche Datenaufnahme und Speicherung schaffen und die die erforderlichen Informationen zur Nutzung der Regelkreise für die Qualitätssicherung sowie eine Mustererkennung für eine kontinuierliche Verbesserung bereitstellen.

„Wir müssen digitale Technologien mutig einsetzen und sie verstehen – inklusive ihrer Grenzen.“

Battery-News: Wie verändert die Digitalisierung die Qualitätssicherung, zum Beispiel durch KI-gestützte Prüfprozesse?
Jatzkowski: Die Veränderung ist grundlegend. KI-gestützte Verfahren gewinnen immer mehr Bedeutung. Wir müssen solche Technologien mutig einsetzen und sie verstehen – inklusive ihrer Grenzen. Ein „Machine Learning“-Modell auf Basis eines neuronalen Netzes ist nicht automatisch besser als ein analytisches Modell. In vielen Fällen sind klassische, analytische Modelle schneller und präziser. Daher müssen wir immer prüfen, welches Vorwissen wir in unsere Regelkreise einbringen können. Es gibt auch die Möglichkeit, analytische Modelle mit neuronalen Netzen zu kombinieren, dort wo die Modellbildung zu komplex oder zu aufwendig ist. Dabei dürfen wir den Trainingsaufwand für KI-Modelle nicht unterschätzen. Genauso entscheidend ist die Qualität der Eingangsdaten. Sensoren und Messsysteme müssen verlässliche, rückführbare Daten mit geringer Unsicherheit liefern. Es bringt nichts, einen „Machine Learning“-Algorithmus mit einem „Machine Vision“-System zu kombinieren, das unscharfe Bilder liefert. Auch für KI-basierte Prüfprozesse gilt: Es muss ein Nachweis der Messprozesseignung erfolgen. Dafür muss der Algorithmus eingefroren und somit also in einem festgelegten Release geprüft werden. Es ist zulässig, den Algorithmus im Hintergrund weiter zu trainieren. Sobald er produktiv eingesetzt werden soll, muss seine Eignung aber erneut nachgewiesen werden.

Ein „Testo Industrial Services“-Experte bei der elektrischen Kalibrierung eines Leistungsmessgeräts. (Foto: Testo Industrial Services)

Battery-News: Im Wettlauf um Produktionskapazitäten entstehen Fabriken in Rekordzeit. Wie lässt sich dabei gewährleisten, dass die Qualität nicht zur Nebensache wird?
Jatzkowski: Die Antwort ist einfach: Es wird nur dann gelingen, Produktionskapazitäten schnell und nachhaltig aufzubauen, wenn die Qualitätssicherung von Beginn an als integraler Bestandteil des Produktionsprozesses verstanden wird. Das ist keine neue Erkenntnis. Sie bildet den Kern des APQP-Ansatzes – des „Advanced Product and Quality Planning“. Dieses Konzept basiert auf einer konsequenten Anwendung der Methoden zum Nachweis der Messprozesseignung und der Fertigungsprozessfähigkeit, ist seit den 1980er Jahren bekannt und hat sich vielfach bewährt. Leider wird der Ansatz in vielen Unternehmen nicht konsequent umgesetzt.

„Qualitätssicherung ist ein integraler Bestandteil der Wertschöpfung. Das muss der Anspruch des Managements sein und jeden Tag vorgelebt werden.“

Battery-News: Was sind die häufigsten kulturellen oder organisatorischen Hürden beim Aufbau einer funktionierenden Qualitätssicherung – und wie lassen sie sich überwinden?
Jatzkowski: Ein stabiles und fähiges Produktionssystem entsteht, wenn mindestens drei Parteien eng zusammenwirken: das Produkt-Design, die Produktionsprozess-Planung und die Qualitätssicherung. Nur so lassen sich wirtschaftliche Produktionssysteme gestalten, bei denen die Abweichungen im Fertigungsprozess, die Messunsicherheit und die Toleranzen so aufeinander abgestimmt sind, dass Produktionsunterbrechungen und Ausschuss minimiert werden. Genauso entscheidend ist das klare Verständnis und die aktive Unterstützung durch das Management. Qualitätssicherung ist ein integraler Bestandteil der Wertschöpfung. Das muss der Anspruch des Managements sein und jeden Tag vorgelebt werden. Es braucht klare Prozesse, definierte Kompetenzprofile und entsprechend geschulte Mitarbeitende. Nur wenn alle genau wissen, welche Verantwortung sie tragen, welche Werkzeuge sie einsetzen können und welche Standards einzuhalten sind, ist Qualität im Tagesgeschäft zuverlässig umsetzbar.

„Wir müssen in spätestens fünf Jahren das Ziel erreicht haben, eine stabile Zellfertigung in Europa zu etablieren.“

Battery-News: Wenn Sie fünf Jahre in die Zukunft blicken: Wie wird sich das Qualitätsmanagement in der Zellfertigung weiterentwickeln – und welche Rolle werden Unternehmen wie „Testo Industrial Services“ dabei spielen?
Jatzkowski: Wir müssen in spätestens fünf Jahren das Ziel erreicht haben, eine stabile Zellfertigung in Europa zu etablieren. Die europäische Automobilindustrie braucht eigene, leistungsfähige Produktionskapazitäten. Qualität wird dabei ein zentrales Unterscheidungsmerkmal sein. Das Label „Quality Made in Europe“ wird zum Versprechen für langlebige, hochwertige und nachhaltig produzierte Batterien. Um das zu erreichen, müssen die Produktionskapazitäten stark ausgebaut werden. Gleichzeitig müssen die Hersteller Praxiserfahrung im Zelldesign und in der Produktion aufbauen. Europa hat hier noch Rückstand im Vergleich mit Asien. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir aufholen. Wir haben starke Maschinen- und Anlagenbauer, führende Forschungseinrichtungen und ein tiefes Verständnis für Qualität und Technik. Wenn wir unser Know-how in der Produktion mit dem Anspruch an europäische Qualität verbinden, können wir eine wettbewerbsfähige und unabhängige Zellfertigung in Europa etablieren. Bei „Testo Industrial Services“ sehen wir unsere Aufgabe darin, die Grundlagen der Qualitätssicherung zu schaffen – durch akkreditiert kalibrierte Messtechnik, systematische Prüfplanung und die konsequente Entwicklung von Strategien zur Qualitätssicherung. Konkret unterstützen wir dabei, geeignete Prüfprozesse zu planen, die Messprozesseignung nachzuweisen, Produktionssysteme zu bewerten und stabile Regelkreise aufzubauen – im Sinne der statistischen Prozesslenkung.

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